Am Sonntag, 8. Januar 2017 haben wir uns im Lesekreis Wirtschaftskonzepte in Nürnberg (vorher auch schon in Berlin) mit einem Aufsatz von Ulrike Herrmann beschäftigt:
Vom Anfang und Ende des Kapitalismus
Er findet sich als erster Text in dem Heft Kapitalismus und Alternativen der Bundeszentrale für politische Bildung, das hier angefügt ist: apuz_2015-35-37_online.
Dankenswerterweise macht Ulrike Herrmann gleich eingangs klar, dass Kapitalismus weder mit Geldsystem noch Marktwirtschaft gleichzusetzen ist. Beide existieren schon lange vor dem Kapitalismus. Den Kapitalismus lässt sie mit dem englischen Industriekapitalismus im späten 18. Jhdt. beginnen und hat dafür die interessante These, dass es dort die hohen Entgelte der Weber waren, die die Umstellung auf Maschinen lohnend machte. Die ersten Webmaschinen machten sich weder besondere Fortschritte der Naturwissenschaften noch großen Kapitaleinsatz zunutze. Was die Markwirtschaft angeht, die durch Konkurrenz faire Preise gewährleisten will, ist die Realität des Kapitalismus mehr durch Kartelle und Monopolbildung gekennzeichnet.
Anzumerken wäre, dass der mechanische Webstuhl sehr schnell mit der Dampfmaschine, also mit fossiler Energie gekoppelt wurde und vielleicht dies ihn erst so erfolgreich machte. Für diese (Eisen, Kohle) war der Kapitaleinsatz wohl doch höher. Zum anderen verfügte England durch die Ausbeutung der Kolonien eben über einen hohen Kapitalstock. Schließlich ist für den Zusammenhang mit der Markwirtschaft interessant, dass Polanyi (The Great Transformation) meint, mit dem Beginn des Kapitalismus hätte sich die Marktwirtschaft grundsätzlich verändert. Aus einem Teilsystem der Wirtschaft entsteht das marktwirtschaftliche System, das beansprucht, das gesamte gesellschaftliche Leben zu regeln, ein Anspruch, dem es nach Polanyi aber nie gerecht geworden ist. Vielleicht machen wir den Polanyis Darstellung des Zusammenhangs von Warenproduktion, Kapitalismus und marktwirtschaftlichem System bzw. marktwirtschaftlicher Ideologie einmal zu einem eigenen Thema.
Im Folgenden wendet sich die Autorin der Kapitalismuskritik zu und lässt sich dabei zu der kühnen These hinreißen, das die Mehrwerttheorie empirisch und theoretisch widerlegt sei. Zweifellos gibt es Einwände gegen die Mehrwerttheorie aber diese Zusammenfassung ist doch eine allzu schlichte, unter anderem auch deshalb weil die subjektive Werttheorie der Grenznutzenschule mit ihrem gänzlich anderen Wertbegriff nicht leicht als eine theoretische Widerlegung aufgefasst werden kann. Unbestritten bleibt aber die Feststellung, dass der Kapitalismus zu ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung führt. Empirisch wird das z.B. von Piketty (Das Kapital im 21. Jahrhundert) umfangreich belegt. Er hat aber nun wiederum keine Erklärung, wie das Wachstum entsteht.
Schließlich gibt es noch eine grundsätzlichere Kapitalismuskritik, die nicht die ungleiche Verteilung des Wachstums, sondern eben dieses selber kritisiert. Das führt zu der Frage, ob Kapitalismus ohne Wachstum möglich sei. Herrmann zitiert Binswanger, der das verneint. Firmen investieren nur, wenn sie Gewinne erwarten. Diese Gewinne seien mit Wachstum identisch.
Daran ist einiges fraglich. Sicher gibt es Neuinvestitionen nur, wenn zusätzliche Gewinne erwartet werden und dazu ist Wachstum notwendig. Aber auch ohne diese fließen Gewinne, auch in einer nichtwachsenden Wirtschaft. Der Kapitalismus wünscht zwar Wachstum, aber er stirbt nicht, wenn es keines gibt. Man kann vielleicht sagen, den dynamischen Industriekapitalismus des 19. Jhdts, der gerade durch die beständige Neuinvestition des Gewinns gekennzeichnet ist, gibt es dann nicht mehr. Aber am Ende ist der Kapitalismus damit eben auch nicht.