Auf der Europäischen Sommeruniversität in Toulouse hatten wir einen Workshop „Commons und Labour“. Meine Aufgabe war, über das Ende der traditionellen Allmenden zu berichten.
Die ursprüngliche Allmende
Noch vor wenigen Jahren war „Allmende“ einfach ein aussterbendes Wort für eine aussterbende Sache – bis es eine neue Konjunktur im Zusammenhang mit freier Software, geistigen Eigentumsrechten („Creative Commons“), aber auch mit Saatgut, Umweltressourcen und generell mit Gemeingütern erlebte. Ursprünglich war die Allmende (Common) eine Weide im Gemeinbesitz. In Europa verschwanden die Allmenden meist im 19.Jhdt., genauer gesagt, sie wurden abgeschafft. Aber in manchen Gegenden existieren sie noch als relativ kleine Relikte. Gleichwohl war die Allmende, mit der heute fortschrittliche, sozialistische, emanzipatorische und utopische Hoffnungen verbunden werden, eingebettet in traditionelle patriarchalische und feudale Strukturen.
Auf der gemeinsamen Weide graste privates Vieh. Sie war eine gemeinsame, aber privat genutzte Infrastruktur. Als eine extensive Form der Landwirtschaft war sie alt im Vergleich zu neueren Formen intensiver Landwirtschaft mit Pflug, Fruchtwechsel und Düngung. Sie reicht in Zeiten zurück in denen das Hirtenwesen der vorwiegende Typus der Landwirtschaft war. Im Vergleich dazu waren die Felder privater organisiert, aber eher in der Art einer Genossenschaft
Unser unbeschränktes Eigentumsrecht war in diesen Zeiten unbekannt. All das gilt noch mehr für die Situation z.B. im vorkolonialen Nordafrika mit lebendigen Traditonen des Gemeinrechts. In jedem Fall war die Allmende ein wesentlicher und unersetzlicher Teil der Landwirtschaft. Viele Jahrhunderte land war sie ein erfolgreiches Beispiel kooperativer Ökonomie.
Die Aufhebung der Allmende
Mindestens so interessant wie die Allmende selbst ist ihr Ende, die so genannte Aufhebung (Enclosure). Auf den ersten Blick eine Folge wissenschaftlichen Fortschritts war sie eng verflochten mit ökonomischen und wirtschaftlichen Interessen (wie heute die genmodifizierten Organismen).
In Preußen hatte Friedrich II., der Große, die Aufteilung und Vernichtung der Allmenden mit großer Geplantheit und Entschlossenheit zu seinem persönlichen Anliegen gemacht (Zückert 2003, S. 295 ff) , für uns eine erstaunliche Tatsache, die deutlich macht, dass es um alles andere als ein Randphänomen der Politik gegangen sein muss. Freilich war die Bedeutung der Landwirtschaft innerhalb der Gesamtwirtschaft in jenen Zeiten viel höher. Auch war ihre Entwicklung eine notwendige Basis für den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Aufstieg, der damals erfolgte. Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit.
Die Allmendaufhebung hat ja nicht nur in Preußen stattgefunden, sondern in ganz Europa und in den davon beeinflussten Teilen der Welt. Besonders deutlich wird das im Zusammenhang kolonialer Politik, weil hier ältere Wirtschaftsstrukturen und die Interessen der bürgerlichen Eigentumsformen direkter und unverhohlener aufeinander trafen. Im Zusammenhang meines Interesses an den arabischen Baumallmenden stieß ich auf sehr kenntnisreiche Berichte von Rosa Luxemburg über die Politik Frankreichs gegenüber ihren nordafrikanischen Kolonien: zum einen in der während des Ersten Weltkriegs im Gefängnis geschriebenen “Einführung in die Ökonomie”, zum anderen und ausführlicher im 27. Kapitel ihrer “Akkumulation des Kapitals”. Dort schreibt sie:
Bei den viehzüchtenden arabischen Nomaden war der Grund und Boden Eigentum der Geschlechter. „Dieses Geschlechtseigentum“, schrieb der französische Forscher Dareste im Jahre 1852, „geht von Generation zu Generation, kein einzelner Araber kann auf ein Stück Land weisen und sagen: Dies ist mein.“
Der Boden war im Eigentum der Geschlechterverbände (Clans), die auch sonst über wichtige Fragen der Gemeinschaft zu bestimmen hatten. Dies blieb zunächst auch nach dem Übergang zum Ackerbau so. Die französische Kolonialregierung bestritt zunächst, dass es solche Art Eigentum geben könne – wie es z.B. auch die englische in Indien getan hatte. Nachdem sie es dann doch anerkennen musste, war ihre erste Handlung, seine Aufteilung und Privatisierung in Angriff zu nehmen:
„Die Regierung“, erklärte General Allard 1863 im Staatsrat, „verliert nicht aus dem Auge, daß das allgemeine Ziel ihrer Politik dies ist, den Einfluß der Geschlechtervorsteher zu schwächen und die Geschlechter aufzulösen. Auf diese Weise wird es die letzten Reste des Feudalismus (!) beseitigen, als dessen Verteidiger die Gegner der Regierungsvorlage auftreten. Die Herstellung des Privateigentums, die Ansiedelung europäischer Kolonisten inmitten der arabischen Geschlechter …, das werden die sichersten Mittel zur Beschleunigung des Auflösungsprozesses der Geschlechtsverbände sein.“
Das Privateigentum, so wurde argumentiert, sei die notwendige Bedingung intensiver und guter Bodenbebauung. Nach Luxemburg benutzten aber die französischen Spekulanten das neu geschaffenen Privateigentum in Algerien zu allem anderen als zur Verbesserung des landwirtschaftlichen Anbaus. Zehn Jahre später war das Ziel erreicht:
> „Die Ihrem Studium unterbreitete Gesetzesvorlage“, sagte der Abgeordnete Humbert am 30. Juni 1873 in der Sitzung der französischen Nationalversammlung als Berichterstatter der Kommission zur Ordnung der Agrarverhältnisse in Algerien, „ist nicht mehr als die Krönung des Gebäudes, dessen Fundament durch eine ganze Reihe von Ordonnanzen, Dekreten, Gesetzen und Senatskonsulten gelegt war, die alle zusammen und jedes insbesondere ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Etablierung des Privateigentums bei den Arabern.“
‘The bill submitted for your consideration’, said Deputy Humbert on June 30, 1873, in the Session of the National Assembly as spokesman for the Commission for Regulating Agrarian Conditions in Algeria, ‘is but the crowning touch to an edifice well-founded on a whole series of ordinances, edicts, laws and decrees of the Senate which together and severally have as the same object: the establishment of private property among the Arabs.’
Die planmäßige, bewußte Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums, das war der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompaß der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller Stürme im inneren Staatsleben während eines halben Jahrhunderts richtete.
Luxemburgs Darstellung ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zum Gemeineigentum in der nordafrikanischen Kultur – und zur Kolonialpolitik. Sie setzt auch neue und eigenständige Akzente in der marxistischen Interpretation von Allmende und Gemeineigentum und rückt insgesamt auch die historische Bedeutung der Allmenden bzw. ihrer Aufhebung für die Entwicklung der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung in ein neues Licht. Diese Wirtschaftsordnung hat nun nicht in Algerien ihren Anfang genommen, auch nicht in Preußen. Friedrich II. hatte darauf verwiesen, bei der Abschaffung der Allmende dem guten Beispiel Englands zu folgen und nicht zufällig gilt dieses ja auch als Mutterland des Kapitalismus.
Die Aufhebung der Allmenden und ihre Privatisierung ging fast immer auf Kosten der Ärmeren und Ärmsten und hat daher durch die Geschichte hindurch zu blutigen Protesten geführt. In England etwa wurde die Waldallmende und entsprechende Nutzungsrechte bereits mit der Magna Charta 1215 aufgehoben. Die Entscheidung löste empörte Wut seitens der Armen aus, deren abenteuerlicher Vertreter Robin Hood bis heute als Held in die englische Geschichte eingegangen ist. In einer zwei Jahre später erfolgten Ergänzung wurden einige Rechte in der sogenannten Wald-Charta wieder zugestanden.
Später folgte die berühmte „Enclosure“ (in alten Dokumenten noch als „Inclosure“ geschrieben), die „Einhegung“ als Privatbesitz, die sich allerdings in verschiedenen historischen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich und auch widersprüchlich darstellt. So bilden die frühen Tudor-Enclosures ab dem späten 15. Jahrhundert nach der landwirtschaftlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts eher einen „Rückschritt“, weil hier Ackerland in Weideland verwandelt wird – um den Besitzern hohe Gewinne aus der Wollwirtschaft zu sichern. Diese Allmendaufhebung wird thematisiert in der „Utopia“ des Thomas Morus, die in diesem Jahr (2016) den 500. Jahrestag ihrer Drucklegung feiert und den Utopien ihren Namen gegeben hat. Sie war sogar ein wichtiger Anlass für ihre Entstehung. Als wichtige Ursache für das Elend in der damaligen englischen Gesellschaft wird folgende genannt:
> „Das sind eure Schafe, die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig werden, daß sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo in eurem Reiche feinere und daher bessere Wolle erzeugt wird, da sind hohe und niedere Adlige, ja auch heilige Männer, wie einige Äbte, nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. … Sie lassen kein Stück Land zur Bebauung übrig, sie zäunen alles als Weide ein, reißen die Häuser ab, zerstören die Dörfer und lassen gerade noch die Kirchen als Schafställe stehen»“ Thomas Morus, Utopia
Die heutige Bevölkerungsleere (depopulation) des nördlichen Schottlands geht auf diese Zeit zurück. Die vertriebenen Bauern fanden keinen Lebensunterhalt mehr, mussten schließlich betteln und stehlen und wurden gehängt, in der Regierungszeit Heinrichs VIII. sollen es 72000 gewesen sein. Thomas Morus wendet sich vehement gegen diese Form der „Rechtsausübung“. Im weiteren Verlauf der Geschichte ergriff allerdings der König und Teile des Adels Partei gegen die Enclosure und bemühten sich um Unterstützungsmaßnahmen für die vertriebenen Bauern. Vielleicht genauso erstaunlich mag erscheine, dass sich das Parlament dagegen für die Enclosure als fortschrittliche Lösung aussprach.
The Great Transformation
Mit der eben zitierten Passage aus der Utopia beginnt Polanyi den Hauptteil seines 1944 abgeschlossenen großen wirtschaftshistorischen Werks „The Great Transformation. Die politischen und ökonomischen Ursprünge unserer Zeit“, überschrieben mit „Rise and Fall of Market Economy“ (Aufstieg und Fall der Marktwirtschaft), sicher eine der gründlichsten und grundlegendsten Abhandlungen zu diesem Thema – mit dem besonderen Schwerpunkt auf den Entwicklungen in England.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Einführung der Marktwirtschaft – und die damit verbundenen Probleme. Mit einer Marktwirtschaft meint Polanyi aber nicht jede Wirtschaft, in der ein Teil des Wirtschaftslebens über Märkte abgewickelt wird. Das ist bekanntlich schon seit Antike und Mittelalter der Fall. Er legt aber Wert darauf, dass dies jahrhundertelang lokale Ereignisse waren, die in einen wirtschaftlichen und politischen Gesamtrahmen eingebettet waren, der seinerseits keine Marktökonomie darstellte. Wir können, darin über Polanyi hinausgehend, die Märkte sogar als eine Art Allmenden interpretieren. Sie stellen kein Privateigentum dar, stehen der Allgemeinheit zur Verfügung, haben ein festes Regelgefüge und Personal, das auf dessen Einhaltung achtet. Diese Märkte entwickelten sich weiter. Insbesondere im Zusammenspiel mit Absolutismus und Merkantilismus kam es zur Ausbildung von nationalen Märkten. Daher sind die freien Märkte in gewissem Sinn eine Erfindung des Staates, nicht wie viele uns glauben machen wollen, dessen Gegenteil. Polanyi stimmt in dieser Analyse mit anarchistischem Gedankengut überein.
Der Schritt zu dem, was Polanyi Marktwirtschaft nennt, liegt aber noch später, nämlich am Anfang des 19. Jahrhunderts. Erst mit der Industrialisierung entstand die Idee der Marktwirtschaft als Rahmenregulativ der gesamten menschlichen Gesellschaft, der Primat der Wirtschaft gegenüber Staat und Gesellschaft. Vorausgegangen war eine weitere Welle von Landprivatisierungen (Enclosures) im 18. Jahrhundert. Die Lehren aus den Tudorzeiten waren vergessen. Es kam wieder zu bitterem Elend auf dem Lande, dieses Mal gekoppelt mit der Einführung der Industrie, was zu komplizierten Wechselwirkungen und unterschiedlichen Maßnahmen führte.
Waren zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf einem Markt verkauft werden können – und dass sie (für diesen Zweck) produziert werden. Die Volkswirtschaft kennt heute als Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Gerade ältere Wirtschaftstheorien nennen als Produktionsfaktor auch und zuerst den Boden. Das hat natürlich seinen Grund in der größeren Wichtigkeit der Landwirtschaft in früheren Zeiten. Der klassische Allmendeboden wurde natürlich als Produktionsfaktor betrachtet, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, sich ihn als Ware vorzustellen. Der volkswirtschaftliche Begriff des Bodens beschränkt sich aber nicht auf den Weide- oder Ackerboden. Auch Rohstoffe, Bodenschätze und Naturressourcen sind ihm zuzurechnen. Wir können stattdessen auch Natur sagen. Der entscheidende und nach Polanyi verhängnisvolle Schritt im Zusammenhang mit der Industrialisierung besteht nun darin, auch den Boden oder die Natur als Ware zu betrachten. Polanyi nennt ihn eine fiktionale Ware. Einer echte Ware ist er deshalb nicht, weil diese definitionsgemäß produzierbar sein müsste. Boden und Natur sind das aber nicht. Die Märkte überschreiten damit sozusagen ihre bestimmungsgemäßen Grenzen. Das aber nicht ohne Grund, wenn man die Geschichte der Industrialisierung betrachtet. Aus den Händlern, die z.B. den Webern ihre Produkte ab- und auf Märkten weiterverkauften und deren Welt naturgemäß die Waren waren, aus diesen Händlern wurden Unternehmer. Sie investierten in Webmaschinen. Damit sich die große Investition lohnte, mussten die Rohstoffe beliebig kaufbar sein, mit andern Worten: sie mussten zu Waren werden. Das gilt natürlich auch für das Land, auf dem die Wolle liefernden Schafe weideten oder der Flachs oder die Baumwolle wuchs. Die Allmenden standen dieser Warenförmigkeit entgegen und mussten deshalb verschwinden. Das ist der tiefere Grund für Ende und Aufhebung der Allmenden. Es war nicht ihre geringere Produktivität sondern ihr Konflikt mit den Anforderungen des kapitalistischen Systems freier Märkte. An Stelle der Allmenden trat das neue bürgerliche Privateigentum am Boden, der uneingeschränkt ge- und verkauft werden konnte.
Ok, aber wo bleibt die Arbeit? Wir haben noch nicht darüber gesprochen, aber wir haben schon einiges über sie erfahren. Denn Arbeit ist wie Land nach Polanyi eine fiktionale Ware. Arbeitskraft oder in anderen Worten Menschen werden nicht produziert und können daher keine echten Waren sein. Aber aus den gleichen Gründen wie beim Land muss die kapitalistische Ökonomie sie wie Waren behandeln. Mit anderen Worten: sie will und braucht einen freien Arbeitsmarkt. Nicht nur die Natur der Arbeit steht dem entgegen, sondern z.B. auch die Tatsache, dass bis zum 18. Jahrhundert Landarbeiter und Bauern sich nicht frei bewegen konnten, sondern in ihrer Heimatgemeinde bleiben mussten. Als ein erster Schritt zu einem freien Arbeitsmarkt wurde dieses settlement law im Jahr 1795 aufgehoben und die Bauern waren nicht mehr an ihre Heimatgemeinde gebunden. Aber im gleichen Jahr, und nun wird es wirklich etwa kompliziert, wurde auch ein anderes Gesetz verabschiedet, das in die entgegengesetzte Richtung wirkte: das Speenhamland-Law. Es ordnete an, dass jeder Bauer und jede Person einen Geldbetrag, bemessen am lokalen Brotpreis, von der Gemeinde bekommen sollte, der ihm oder ihr ein Überleben ermöglichen sollte. Das war natürlich nicht im Interesse eines freien Arbeitsmarktes, aber es war von den lokalen, meist ländlichen, Autoritäten verordnet. Wie das?
Revolutionen und andere fundamentale politische oder ökonomische Umwälzungen werden oft besser verstanden, wenn sie nicht als Konflikt zwischen Unten und Oben, sondern zwischen einer alten und einer neuen Elite aufgefasst werden, die dabei das Volk als Mittel der Transformation benutzt. So haben wir hier die alte ländliche Aristokratie und die neuen bürgerlichen Händler und Unternehmer als Gegenspieler mit vollkommen unterschiedlichen Interessen. Die erstere war für das Speenhamland-Law in einem Gemisch von paternalistischer Verpflichtung gegenüber den Landleuten and der Notwendigkeit, Arbeitskräfte für erschwingliche oder niedrige Löhne zu bekommen, das städtische Bürgertum war dagegen. Das Speenhamland-Law, zuerst eine Art von Kombilohn und sich dann in Richtung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen entwickelnd, erwies sich schließlich als völliger Fehlschlag. Die Produktivität sank, die öffentlichen Kassen erschöpften sich. Die Armen kamen in Arbeitshäuser, damals auch Gefängnisse ohne Verurteilung genannt. Nach Polanyi war der Grund für diesen Fehlschlag die Illusion, ein kapitalistisches Marktsystem wäre ohne einen gleichermaßen freien Arbeitsmarkt realisierbar. In den 1830er Jahren wurde das Gesetz ohne erkennbaren Widerstand aufgehoben und die Zeit war gekommen für die Umsetzung eines wirklich freien Arbeitsmarktes. Das hieß, dass jeder nur sich selbst überlassen blieb. Keine anderer Person oder Institution hatte sich um ihn zu kümmern. Die Folgen sind leicht vorstellbar. Diese gewaltigen Veränderungen im realen Wirtschaftsleben wurden durch ebenso gewaltige in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie begleitet.
Mit seinem Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ (1776) gilt Adam Smith als Begründer der Wirtschaftswissenschaft. Aber diese Wissenschaft war nach wie vor eingebettet in den Rahmen menschlicher Politik und Moral. Ich betone das, weil es sich in den nächsten Jahren schnell umkehrte. Durch die Great Transformation bestimmte eine auf freien Märkten basierende Ökonomie den Rahmen für menschliches Handeln und Politik.
Auch war bei Smith die Armut noch nicht das beherrschende Thema der Ökonomie. Auch das sollte sich in den nächsten Jahren sehr schnell ändern. Zehn Jahr später erschien Joseph Townsend’s „Dissertation on the Poor Laws“. Im 18.jhdt wurde zwischen poor und pauper unterschieden. Poor waren alle die, die nicht vom eigenen Land mithilfe fremder Arbeit leben konnten, mithin die gesamte arbeitende Bevölkerung, pauper dagegen diejenigen, die arbeitslos waren und um das pure Überleben kämpfen mussten. Die Zunahme der letzteren war das Problem, an dem die gesamte Volkswirtschaft rätselte. Allgemein akzeptiert war aber die eigentlich paradoxe Tatsache, dass die Zunahme der Armut einher ging mit der Zunahme des Wohlstands der Nationen und dass es gerade in den wohlhabendsten Nationen die meisten Armen gab. Theoretische Erklärungen fand man nicht, praktische Abhilfe waren in England die Arbeitshäuser.
Townsends Arbeit bedeutete eine radikalen Paradigmenwechsel in praktischer und theoretischer Hinsicht. Der Kernpunkt von Townsends Argumentation ist die, auch Malthus und Darwin bekannte, Geschichte, wie auf der Robinsonschen Insel später dort Ziegen und Hunden angesiedelt wurden. Die Geschichte muss nicht wahr sein, aber sie war sehr einflussreich: Ohne irgendeine Regierung oder Gesetze regelte sich ein Gleichgewicht von Tierpopulationen und Nahrungsmittelvorrat. Der theoretische Wechsel der Wirtschaftswissenschaft war der von einem sozial- zu einem naturwissenschaftlichen Modell. Der praktische Vorschlag war der, auf Arbeitshäuser und andere Maßnahme zur verzichten und auf den Hunger als regulierendes Prinzip auch bei den Menschen zu setzen.
Hunger wird die wildesten Tiere zähmen, er wird Höflichkeit und Zivilisation, Gehorsam und Unterwerfung auch den Perversesten lehren. Generell ist es es nur der Hunger, der den Armen zur Arbeit anspornen und antreiben kann. Jedoch unsere Gesetze sagen: sie sollen nie hungern. Die Gesetze, man muss es zugebne, sagen auch, dass sie zur Arbeit gezwungen werden sollen Aber dann ist der gesetzliche Zwang mit viel Mühe, Gewalt und Lärm verbunden. Er erzeugt Widerwillen und kann nie gute und akzeptable Dienste hervorbringen, während der Hunger nicht nur friedlichen, leisen und unablässigen Druck ausübt, sondern auch als das natürlichste Motiv für Fleiß und Arbeit, zu den höchsten Anstrengungen antreibt; und wenn er durch die freiwillige Freigebigkeit eines anderen gestillt wird, eine andauernde und sichere Grundlage für Gutwilligkeit und Dankbarkeit legt
Joseph Townsend, Dissertation on the Poor Laws
Damit sind wir in der Marktgesellschaft angekommen, in der wir mehr oder weniger seither und bis heute leben. Polanyi wäre aber, was häufig geschieht, missverstanden, wenn wir meinen, er hätte den Triumph der freien Marktwirtschaft beschrieben. Seine Absicht war aber, den Triumph des Glaubens an die freie Marktwirtschaft und ihre Selbstheilungskräfte zu beschreiben. Wir könnten auch sagen: den Triumphzug des Neoliberalismus.
Die Begriffe Kapitalismus oder Marktwirtschaft bezeichnen Wirtschaftssysteme,
Neoliberalismus dagegen eine wirtschaftspolitische Überzeugung oder auch Ideologie. Polanyi hielt den Glauben an das Funktionieren einer freien Marktwirtschaft für einen Aberglauben. Diese bedarf immer wieder gesetzlicher Maßnahmen und der Unterstützung durch einen an sie glaubenden Staat. (Vgl. Freihandelsabkommen). Sie ist auch deshalb illusionär, weil der freie Wettbewerb regelmäßig übergeht in eine Herrschaft durch abgestimmte Mono- oder Oligopole.
Polanyi erklärt auch, warum das System im 19. Jahrhundert noch lange stabil gehalten werden konnte. Erst in den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts vom ersten Weltkrieg über Inflation, Weltwirtschaftskrise, Faschismus bis zum zweiten, die die Alte Welt zum Einsturz brachten, zeigten sich, ihm zufolge, die Folgen dieser Entwicklung. Hier ist nicht der Ort für eine abschließende Bewertung dieser Entwicklungen. Aber wie immer diese ausfallen sollte. In jedem Fall wird deutlich, in welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimensionen die Aufhebung der Allmenden hineinreicht – weit über die Umnutzung einiger landwirtschaftlicher Flächen hinaus.
Ein Gedanke zu „Das Ende der Allmende und die große Transformation“